Wie meine Familie sich gegen die Nazis wehrte
von Amelie Fried
Signatur: X Fried
Amelie Fried, Jahrgang 1958, ist uns vor allem bekannt als Moderatorin der Bremer Talkshow „3 nach 9“ im NDR-Fernsehen, vielleicht auch als Romanautorin für Erwachsene (einige zur Unterhaltung gut zu lesende Bücher wie z.B. „Traumfrau mit Nebenwirkungen“ oder „Liebes Leid und Lust“ wurden auch fürs Fernsehen verfilmt) oder Autorin und Herausgeberin von Kinderbüchern (z.B. „Ich liebe dich wie Apfelmus. Die schönsten Gedichte für Kleine und Große“, auch in der KiBi auszuleihen und sehr empfehlenswert!).
Anfang 2008 erschien nach etwa dreijähriger Recherche ihr Buch über die eigene Familiengeschichte in Ulm im Schwäbischen zur Zeit des Nationalsozialismus. Das Buch ist den Familienmitgliedern gewidmet, die Opfer der Nazi-Gewaltherrschaft wurden, sowie ihren eigenen Kindern, die zur Zeit des Erscheinens 13 und 16 Jahre alt waren – also der Vergangenheit ebenso wie der Zukunft.
Eindrucksvoll schildert sie die Zeit ihrer eigenen Kindheit, in der der Vater wortlos den Raum verließ, sobald das Gespräch die Nazi-Zeit berührte. Das Wissen darum, dass der Vater als „Halbjude“ gegolten hatte, blieb folgenlos; lediglich selbst also – nach der Nazi-Arithmetik – „Vierteljude“ zu sein verursacht ihr und den Brüdern einen „gruseligen Schauder“. In ihrer eigenen Kindheit hielten sie es aber für normal – sie kannten ja nichts Anderes – nicht nachzufragen, wie es Vater und Großvater sowie eventuellen weiteren Verwandten während der Nazizeit wirklich ergangen war.
Manche Gespräche werden im schönsten Dialekt wiedergegeben, so dass der Leser das Gefühl hat, den Vater reden zu hören. So auf ihre nur ein einziges Mal gewagte Frage „Papa, wie war es eigentlich so im Krieg?“. „Scheiße war’s, wie sonscht?“ Auf ihre Nachfragen wehrt er ab „Jetzt hörsch auf mit dem dumma Gschwätz, hasch ghört?“
Dass die Unnahbarkeit des Vaters, die gespannte Stimmung zwischen Vater und Großvater, den sie als kleines Mädchen noch kennen gelernt hat, die Kälte in seinen menschlichen Beziehungen Auswirkungen seines Unglücks, seiner traumatischen Erfahrungen in der Nazizeit waren, über die er nicht mehr sprechen konnte und wollte, weil er sie lieber vergessen hätte, begreift die Tochter erst als Erwachsene, viele Jahre nach seinem Tod, zum Teil erst mit den Recherchen zu diesem Buch.
Alles beginnt damit, dass ihr Ehemann in NewYork in einem Gedenkbuch auf die Namen Max und Lilli Fried gestoßen ist, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden und in Auschwitz ermordet worden sind. Sie kennt die Namen nicht, weiß nicht, ob es Angehörige ihres Großvaters waren, und beginnt nachzuforschen – in Archiven, im Internet, in Gesprächen mit noch lebenden Zeitzeugen. Das vorliegende Buch pendelt zwischen der Darstellung dieser Recherche, der Trauer und dem Entsetzen über das Entdeckte, der Wut über das Schweigen auf der einen Seite und der Darstellung dessen, was sie über die Großeltern und den Vater sowie die weiteren Verwandten, von denen sie bis dahin nichts ahnte, in Erfahrung bringen kann.
Eindrücklich beschreibt sie, warum sie gar nicht mehr anders kann als hinzusehen, weiter zu forschen: „Mit einem Mal wird aus abstrakter Historie konkrete Familiengeschichte. Zwei von sechs Millionen (ermordeten Juden) haben plötzlich einen Namen: meinen.“ Und mit dem Aufschreiben ihrer Familiengeschichte werden sie, die in der ungeheuerlichen Zahl beinahe schon vergessenen Opfer, wieder zu individuellen Menschen mit einer eigenen, erzählbaren, tragischen Geschichte. So wie auch in ihrem ungeliebten zweiten Vornamen Ilse etwas weiterlebt von der Ilse, Cousine des Vaters, die als junge jüdische Frau zusammen mit ihrer Mutter aus Nürnberg in ein polnisches jüdisches Getto deportiert wurde, dessen Bewohner nahezu gänzlich umgebracht wurden.
Auf einmal geht sie mit anderen Augen durch die Orte ihrer Kindheit und Jugend, durch München, die Stadt ihres Studiums, weil sie dort auf einmal auf Schritt und Tritt den Orten begegnet, wo die unbekannten Verwandten, aber auch Vater und Großvater Unglaubliches erlebt haben.
Bei all dem Schrecken, den auch die persönliche Geschichte von Vater und Großeltern hervorruft, auf die ich hier nicht näher eingehe, bleibt das Buch nicht stehen. Zwar haben sich in ihren Träumen teils die „schattenhaften Gestalten“ der Vorfahren um ihr Bett versammelt, als wollten sie sie „auffordern, ihre Geschichte dem Vergessen zu entreißen“, aber die Grundstimmung ist die Neugier auf das, was ihr vorenthalten wurde, die Bereicherung, die darin besteht, so viele bisher unverstandene Familiengeheimnisse jetzt besser zu verstehen, aber auch darin Menschen kennen zu lernen am anderen Ende der Welt, die ihre Verwandten sind (einen 92jährigen Onkel in Seattle), von dem sie jahrzehntelang nichts wusste. Schön erzählt, wie nach einer langen USA-Canada-Reise 2005 mit gigantischen Naturerlebnissen die 11- und 14-jährigen Kinder auf die Frage, was ihnen an der Reise am besten gefallen hat, unisono antworten: „Onkel Walter!“
Die Geschichte ist durchgehend spannend erzählt (ich hatte es – obwohl nicht viel Zeit – in zwei Tagen durchgelesen), die Sprache ist sehr persönlich mit großem Mut, über die eigenen Gefühle authentisch zu reden, der Stil ist einfach und für Jugendliche (ich denke, ab etwa 12 Jahre) sowie auch Erwachsene gut lesbar. Alle unbekannten Worte, Personen, historischen Verweise – z.B. arisch, antisemitisch, Holocaust, Bücherverbrennung oder Stolperstein-Initiative (die ja auch in Bremen bekannt ist!) – werden kurz und sehr treffend im Anhang erläutert; außerdem gibt es eine Zeittafel und zur besseren Orientierung einen Stammbaum der Familie Fried.
Das Buch ist meiner Ansicht nach eine sehr große Bereicherung im riesigen „Markt“ von Büchern zum Thema Nationalsozialismus, dem man viele – jugendliche und erwachsene – Leser und Leserinnen wünscht.
Eva Krone, 28.1.2009
(fast pünktlich zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus jeweils am 27.1. eines jeden Jahres = Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz)