Dieb im Haus der Erinnerung

von Tim Wynne-Jones

Im Mittelpunkt der Handlung steht der sechzehnjährige Declan (Dec) Steeple, Sohn einer reichen, von Traditionen zehrenden Familie im Osten Kanadas. Er wohnt mit seiner Familie in „Camelot“, einem Haus wie aus einer Wohnzeitschrift entsprungen. Seine Familie: sein Vater Bernard Steeple, der den früheren Ruhm der einflussreichen Familie eher nur noch verwaltet und in seinem Werkstattschuppen Szenarien von historischen Kriegsschlachten im Modell nachbaut, dessen junger Freundin Birdie und seiner kleinen Schwester Sunny, fast sechs Jahre alt, die Birdie „Mommy“ nennt, denn sie kann sich an beider Kinder wirkliche Mutter, die vor Jahren verschwand, nicht mehr erinnern.

An „Camelot“ findet Dec, der sich für Architektur interessiert und an einem Architekturwettbewerb teilnehmen will, alles unecht. Das echte Leben ist für ihn auch nach Jahren noch in seinem alten Zuhause „Steeple Hall“, das verlassen aber vollständig eingerichtet wie eine „riesige Zeitkapsel“, „eine abgestreifte Schlangenhaut … schön, aber leblos“ einen Fußweg weit weg auf einem Hügel zwischen großen Bäumen und Büschen versteckt liegt. Während Sunny das alte Haus als Spiel- und Spaßhaus ansieht, in das sie ihre abgelegten Spielsachen bringt, damit sie in Zukunft dort wohnen, ist das repräsentative Anwesen für Dec das „Haus der Erinnerungen“, das ihn zugleich anzieht und beängstigt.Und dann entwickelt sich – vordergründig – ein Krimi: Dec und Sunny finden in der Eingangshalle von „Steeple Hall“ einen Toten, der unter einem der riesigen Bücherregale begraben liegt; aber hinter diesem Ereignis und seiner Aufklärung liegt für Dec die Suche nach seinen Erinnerungen aus der Kindheit, die Suche nach der Erinnerung an seine verschwundene Mutter Lindy und nach dem Grund, warum sie damals weggegangen ist.

Die Erzählung der Ereignisse aus der Sicht Decs, die so gut und detailreich beschrieben wird, dass Häuser und Landschaften wie auch die Menschen bildhaft vor dem inneren Auge des Lesers entstehen, wird dabei immer wieder unterbrochen durch Passagen, die seine Träume und Tagträume wiedergeben, in denen ihm seine Mutter erscheint. Wie im Kino sieht Dec Szenen aus der Vergangenheit vor sich, aus seiner frühen Kindheit: einerseits Lindy als „Wonder Woman, die Unbesiegbare“, andererseits aber auch: „Dec, keucht sie atemlos. ‚Bring mich von hier weg, bevor es zu spät ist.‘“. Beim Sortieren und Durchdenken von Fakten und Gefühlen, von wieder aufblitzenden Erinnerungsfetzen und bald erahnten Verdachtsmomenten, Bernard Steeple, der unscheinbare, verschrobene, aber etwas undurchsichtige Vater könnte etwas zu Tun haben mit dem Tod des Mannes im Haus, aber auch mit dem Verschwinden der Mutter, hilft Decs Freund Ezra, „Herr Dr. Sigmund Seelendoktor“ mit dem „Klar-Seher-Hut“, sein kluger und witziger Freund und Vivien, eine Gedichte schreibende, ein bisschen verrückte Mitschülerin.

Träume, Gefühle und Geheimnisse, Witz und Blödeleien unter Jugendlichen und die Auflösung des Kriminalfalls wie auch des Rätsels um das Verschwindens von „Lindymom“ sind nachzulesen in dem spannenden, durch Lust an Sprache sich auszeichnenden Jugendbuch aus Kanada, in dem die Hauptperson Dec sich seinen Erinnerungen stellt, die zugleich schmerzen sowie ihn in eine einfach und sicher erscheinende Kindheit zurück entführen und die wie im Nebel versunken erscheinen. Dabei wird er langsam erwachsen: „am Tor der Zukunft“ sozusagen.

Eva Krone